In diesem Club-Gespräch fassen wir die Highlights unserer Podcast-Folge „Retention ist Chefsache" zusammen. Das ganze Gespräch von Christina Raab und TheNextWe-Mitgründerin Insa Klasing ist hier zu hören.
Insa: Ich freue mich sehr, heute einen ganz besonderen Gast begrüßen zu dürfen, nämlich Christina Raab, die neue Accenture Chefin. Accenture begleitet Unternehmen aus verschiedenen Branchen bei komplexen Transformationsprojekten. Christina selbst hat aber auch eine komplexe Transformation bei Accenture angestoßen und ich freue mich sehr darüber, heute mit ihr zu sprechen. Christina, du bist jetzt acht Monate in einer neuen Rolle. Was war dein Mindset für die ersten 100 Tage? Hattest du da bewusst ein Mindset gewählt oder hast du etwas, was sich dann im Nachhinein als Mindset herauskristallisiert hat?
Christina: Ja, ich bin mit einem konkreten Mindset reingegangen. Für mich war ganz wichtig, das Zuhören und Verstehen in den Vordergrund zu stellen. Also zuhören, lernen, offen sein, mit nicht zu vielen voreingestellten Meinungen reinzugehen, um mir so auch noch mal so einen frischen Blick auf die Dinge zu ermöglichen. Und das war für mich das Mindset und auch das Ziel für die ersten sechs Monate und dann daraus für mich zu sagen: Wie will ich führen und was sollen auch meine Schwerpunkte sein? Ich habe mir vorgenommen, mich so ganz bewusst zurückzuhalten und zu sagen: „Stopp - Du weißt es vielleicht nicht oder höchstwahrscheinlich nicht”. Und das waren so Erinnerungen, die ich mir immer wieder für mein Mindset gesetzt habe. Nimm nicht zu viel vorweg, versuche wirklich unvoreingenommen zuzuhören, um aus diesen natürlichen Schlüssen, die man ja in 20 Jahren doch gelernt hat, rauszukommen. Die Erfahrung und diese Schlüsse, die mal wirklich bewusst rauszunehmen und zu sagen: „Ich hab die berühmten 100 Tage und ich muss auch nicht direkt entscheiden”, und um den Druck rauszunehmen, dass ich sofort auf alles eine Antwort haben muss. Das hat mir geholfen und da ist dieses Konzept der 100 Tage für einen selbst und die Organisation ganz hilfreich.
Insa: Das ist so spannend, was du beschreibst, denn das ist, glaube ich, ein Mindset-Wandel, der generell in der Führung gerade vonstatten geht. Jetzt merken wir, dass wir in einer Zeit leben, in der niemand mehr die Antworten hat. Was sind denn die Herausforderungen, die du sozusagen mit der Rolle geerbt hast?
Christina: Für mich, wenn ich zurücktrete und drauf gucke: Was wird uns beschäftigen die nächsten Jahre? Dann ist es für mich ein Thema: Talent. Wie finde ich die passenden Mitarbeitenden für Accenture? Und vor allen Dingen dann noch mal verstärkt: Wie schaffe ich es, sie bei Accenture zu halten? Also klassische Retention.
„Heute arbeiten wir auf komplexen Transformationsprogrammen, die viele Dimensionen haben. Das bedeutet, dass wir als Teams anders zusammenarbeiten müssen, dass wir der Individualität mehr Raum geben sollten und müssen, um zu Lösungen zu kommen."
Insa: Und wie sieht diese Herausforderung konkret aus, was Retention und Recruiting angeht?
Christina: Die Herausforderungen im Recruiting-Markt sind so, dass alle nach dem gleichen Talent suchen und sich die Herangehensweise oder Philosophie aus in meinen Augen völlig geändert hat. Früher hat sich der Bewerber beim Unternehmen beworben, heute bewirbt sich das Unternehmen beim Bewerber. Was bieten wir dem zukünftigen Mitarbeier beim Einstieg und bei der weiteren Karriereentwicklung? Das ist ein Mindset-Wandel, den man braucht, um am Recruiting-Markt erfolgreich zu sein.
In der Retention ist aus meiner Sicht die größte Herausforderung und auch Chance, dass die Bedürfnisse der Mitarbeiter individuell sind und die klare Erwartungshaltung auch ist, individuell darauf einzugehen. Vor 20 Jahren gab es völlig klare hierarchische Strukturen bei unseren Kunden, die Projektarbeit war Monate im Voraus geplant. Es wurde nach einem einheitlichen Rhythmus gearbeitet, und das war auch für die Art der Projekte und Herausforderungen unserer Kunden eine gute Lösung. Heute arbeiten wir auf komplexen Transformationsprogrammen, die viele Dimensionen haben. Das bedeutet auch, dass wir als Teams anders zusammenarbeiten müssen, dass wir der Individualität mehr Raum geben sollten und müssen, um zu Lösungen zu kommen.
Das ist das Mindset dahinter ist also: Das Umfeld hat sich verändert – und deswegen können und dürfen wir auch mit unseren Mitarbeitern einen anderen Rahmen setzen.
Insa: Was heraussticht ist, dass ihr bei euch anfangt. Und was hat dich dazu veranlasst, da zu beginnen?
Christina: Es hat etwas mit Neustart zu tun und der Chance, die dem Neustart innewohnt. Als ich als neue Führungskraft reingekommen bin, zu sagen: „Was halte ich für wirklich wichtig und wo ist die zentrale Chance für uns als Accenture?” Und das war mir aus den Gesprächen mit den Mitarbeitern, aber auch mit den Führungskräften ganz klar, dass diese Mindsetveränderung von den Führungskräften kommen muss. Wir sind nur glaubwürdig, wenn wir auch selber an uns arbeiten und sichtbar machen und vorleben, dass wir eine neue Führungs- und Arbeitskultur haben wollen. Und gelingt uns das jeden Tag? Nein. Es ist ein Programm und ein Ansatz, der sich weiterentwickelt, wo wir uns auch selber immer wieder hinterfragen: Ist es richtig? Wie können wir erreichen, dass wir den nächsten Schritt gehen? Wie können wir glaubwürdig sein? Warum gehe ich auf diese Reise? Was erhoffe ich mir selbst und was möchte ich auch meinen Teams weitergeben?
„Wir bestehen aus der Summe der Fähigkeiten unserer Mitarbeiter, aus deren Commitment, aus deren Kreativität."
Insa: Häufig wird ja Führungskultur oder Kultur insgesamt als ein „nice to have” betrachtet – aber das lebst du völlig anders.
Christina: Ich bin der Überzeugung, dass wir Partner für unsere Kunden sind. Da sind unsere Mitarbeiter ja unser Asset. Das ist das, was wir haben, wie wir sind. Wir bestehen aus der Summe der Fähigkeiten unserer Mitarbeiter, aus deren Commitment, aus deren Kreativität, aus deren Wunsch und auch deren eigenem Antrieb, immer wieder zu hinterfragen und den nächsten Schritt zu gehen.
Insa: Es ist gerade die Gallup-Studie zum Thema „The Great Resignation” herausgekommen. Und diese Studie hat für Deutschland ganz klar gezeigt, dass da ein Retention-Tsunami auch auf uns zurollt. Jeder vierte Mitarbeiter hat angegeben, noch in diesem Jahr, also in 2022, den Arbeitgeber wechseln zu wollen. Christina, wenn du sagst: “Das Thema Retention ist Chefsache”: Was ist das Schwierigste für Chefs, bei sich selbst anzufangen, so wie du es skizziert hast?
Christina: Die Herausforderung für jeden Einzelnen sind die eigenen Mechanismen, die im Mindset, was man über 10 bis 20 Jahre hatte, ganz tief drin – das sind natürlich Erlebnisse und eingeübte Verhaltensweisen. Und die werden ja auch relativ automatisch abgerufen. Und sich dann zum einen selbst in Frage zu stellen und zu hinterfragen, ob das noch passend ist, ob die Verhaltensweisen noch zur aktuellen Situation passen, ist der erste Schritt, weil es damit zu tun hat, sich selbst auch fundamental zu hinterfragen. Und die zweite Herausforderung ist: Vom „Verstanden” auch tatsächlich in die tägliche Routine umzusetzen, nicht zurückzufallen, nicht Automatismen abzurufen, gerade in Stresssituationen dann auf das Bewährte und Eingeübte zurückzukommen.
Insa: Ja, denn da gucken natürlich die Mitarbeiter, die bleiben sollen, ganz besonders drauf. Ist das jetzt ein Poster an der Wand oder meint ihr das wirklich ernst?
Christina: Ich denke, was hilft, ist auch die Offenheit zu sagen: „Ach, jetzt bin ich, liebes Team, jetzt bin ich gerade wieder in meinem in meinem Tunnel, in meinem Automatismus gewesen. Noch mal zurück, wir wollten das ja eigentlich anders machen.” Das ist ok. Gütig zu sich selbst zu sein, wenn man in den Veränderungsprozess reingeht, tut uns allen gut..
Insa: Was wir jeden Gast im Podcast fragen: Was war für dich persönlich der größte Mindset-Wandel deines Lebens (auf ganz individueller Ebene)?
Christina: Wenn ich so reflektiere, sind es eher die kleinen Momente, die sich so aufsummieren. Und am Schluss blickt man zurück und sagt: “Oh, jetzt bin ich schon ganz woanders rausgekommen als vor einem Jahr.” Da waren viele kleine Stücke dazwischen und jetzt hat sich mein Mindset geändert. Als ich vor über 10 Jahren zur Partnerin befördert wurde, hatte ich ein ganz kleines Erlebnis, aber es hat bei mir viel ausgelöst. Ich war befördert, ich war die erste Frau in dem Bereich, die zum Partner befördert wurde. Am Flughafen hat mich eine Kollegin angesprochen und mit ganz großer Ehrlichkeit und Erwartungshaltung gesagt: „Du bist doch jetzt Partner. Du engagierst dich doch jetzt für Diversity und Inklusion.” Und das hat mich so überrascht und sprachlos zurückgelassen, weil ich gemerkt habe, dass mit dem Schritt, den ich jetzt gemacht habe, ich nicht mehr „nicht führe”. Was ich tue und nicht tue, ist Führung, ist Ausdruck, wie wir zusammenarbeiten als Unternehmen, was uns wichtig und weniger wichtig ist. Und das hat mich gepackt und so zurückgeführt auf die Fragen: Was kannst du und willst du bewegen? Und egal, was du dir vornimmst, es ist Führung. Also: “Nicht Führung” geht nicht. Aber es hat mich auch angerührt und angetrieben zu sagen: Das muss ich mir jetzt überlegen, nicht heute und vielleicht auch nicht morgen. Aber das ist jetzt eine ganz tolle Chance. Dass Mitarbeiter jetzt ein Vertrauen haben, dass ich eine Veränderung anstoßen werde. Das ist so ein Moment, der war so klein, aber der hat viel bei mir am Mindset geändert.
Insa: Ja, das ist so. Man kann nicht nicht führen – so, wie wir nicht nicht kommunizieren können. Christina, ganz herzlichen Dank für dieses tolle Gespräch.